Hilfswerk Österreich – Faktencheck Pflege, Teil 2: Wie fair ist Österreichs Pflegesystem?

Hilfswerk fordert nachvollziehbare Standards für Pflegedienstleistungen und Eigenbeiträge

Wien (OTS) Ist Pflegebedürftigkeit in Österreich eine Standortlotterie? Wovon hängt es ab, welche Unterstützung zu pflegende Personen bekommen und was sie dafür zu bezahlen haben? Obwohl die Österreicherinnen und Österreicher die gleichen Steuern und Abgaben zahlen, unterscheiden sich die Höhe der Eigenbeiträge und die Verfügbarkeit von Pflegedienst­leistungen beträchtlich. Nachweisliche Ungleichbehandlungen sind die Folge. Nachvollziehbare Kriterien fehlen. Eine echte Reform steht aus.

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Die vorliegende Pressemitteilung ist Teil einer Serie von Aussendungen des Hilfswerk Österreich zum Thema „Faktencheck Pflege“. Ihr Ziel ist es, eines der politisch und sozial brisantesten Themen möglichst umfassend und auf Basis überprüfbarer Fakten darzustellen. Das dient zum einen der Versachlichung bzw. Vertiefung der aktuellen Pflegedebatte. Zum anderen will das Hilfswerk relevante Grundlagen und Argumente für anstehende politische Entscheidungen aufzeigen.

Nimmt man etwa das in Österreich mit Abstand meistgenutzte Pflegesetting „Mobile Dienste“ genauer unter die Lupe, fallen zum Teil gravierende Unterschiede zwischen einzelnen Regionen auf. Sowohl im Hinblick auf die Leistungspalette für die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, als auch, was die Eigenbeiträge der Kundinnen und Kunden betrifft. „Diese Unterschiede sind vor dem Hintergrund einheitlicher Steuer- und Abgabenregelungen in einem Sozialstaat wie Österreich eigentlich inakzeptabel“, hält Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich, fest. „Es ist nicht schlüssig geklärt, welche Quantität und Qualität an Unterstützung in Österreich im Pflegefall zusteht und was man dafür zu bezahlen hat. Nachvollziehbare Kriterien? Fehlanzeige.“

Kosten mobiler Pflege: ein Fallbeispiel in Variationen

Um diese nicht nachvollziehbaren Unterschiede zu verdeutlichen, hat das Hilfswerk Österreich anhand eines Fallbeispiels für einige Bundesländer detailliert durchgerechnet, mit welchen Leistungen zu pflegende Menschen und ihre Angehörigen je nach Wohnort rechnen können und wie tief sie dafür in die eigene Tasche greifen müssen. Die Berechnungen beruhen auf folgenden Annahmen:

Ein Ehepaar: Sie ist 80 Jahre alt, bezieht eine monatliche Pension von € 921,00*, Arthrose und Bewegungseinschränkungen beeinflussen ihren Gesundheitszustand, sie hat noch keinen Anspruch auf Pflegegeld. Ihr Mann ist 85 Jahre alt, erhält eine Pension von € 1.515,00*, wurde soeben nach einem Schlaganfall aus dem Krankenhaus entlassen, ist halbseitig gelähmt und leidet an einer leichten Demenz. Derzeit erhält er das Pflegegeld der Stufe 4 in der Höhe von € 677,60. Beide leben alleine in ihrem Eigenheim, die 55-jährige Tochter wohnt im gleichen Ort, steht kurz vor ihrer Pensionierung und unterstützt ihre Eltern regelmäßig bei der Verrichtung von Alltagstätigkeiten.

Der mobile Pflegebedarf im ersten Monat nach der Krankenhausentlassung des Mannes betrifft vor allem das Case Management, sprich: die Etablierung der Pflegeroutine hinsichtlich der halbseitigen Lähmung und der Demenz. Hier bedarf es professioneller Betreuung durch diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegekräfte (DGKP). Mit dem zweiten und dritten Pflegemonat sinken der Präsenzbedarf der Pflege- und Betreuungskräfte sowie der Pflegeaufwand deutlich – und somit auch die Kosten. Die mobile Betreuung obliegt nun vorwiegend Pflegeassistenzkräften bzw. Heimhilfen.

Die ermittelten Eigenbeiträge für diese Leistungen weichen in den sechs analysierten Bundesländern – Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Steiermark – erheblich voneinander ab. Siehe Fallbeispiel und Erläuterungen weiter unten.

„Uns geht es keinesfalls darum, eine Region gegen die andere auszuspielen, oder zum Kosten-Poker aufzurufen“, führt Anselm aus und erläutert weiter: „Aber wir halten derart massive Unterschiede bei den von Pflegebedürftigen aufzubringenden Eigenbeiträgen grundsätzlich für diskussionswürdig. Es gibt weder sachliche Gründe dafür, noch sind sie den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber fair. Und sie sind ein klares Indiz für eine fehlende systematische Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Fragen: Welche Versorgungsleistung dürfen pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörige in Österreich erwarten? Was ist an Eigenbeiträgen zumutbar? Für welche Pflegeleistungen kommt die Solidargemeinschaft auf?“

Wie hoch sind die Unterschiede?

Im günstigsten Bundesland würde ein und dasselbe Pflegesetting dem Ehepaar ab dem dritten Monat € 256,12 an Eigenbeiträgen kosten, während es im teuersten Bundesland mit € 413,60 zu Buche schlägt, das sind um 61,5 Prozent mehr. Die Beträge fallen für die sieben Mal pro Woche für jeweils eine halbe Stunde im Haushalt anwesende Heimhilfe an. Im ersten Pflegemonat sind, bei verstärkter Involvierung von DGKP-Kräften, die regionalen Unterschiede noch gravierender: € 888,81 an Eigenbeiträgen im günstigsten stehen € 1.484,27 im teuersten Bundesland gegenüber, das sind um zwei Drittel bzw. 67 Prozent mehr.

Für die Arbeitsstunde einer diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegekraft beläuft sich der Kostenanteil, für den die pflegende Person selbst aufkommen muss, auf € 20,40 in Kärnten. In Oberösterreich sind es € 21,80, in Salzburg € 21,90, im Burgenland € 25,90, in der Steiermark € 32,43, in Niederösterreich € 32,92. Dazu kommen in einigen Bundesländern Zuschläge für Wochenend- bzw. Feiertagsdienste (zum Teil 50 Prozent, zum Teil 100 Prozent). Auch die Eigenbeiträge für Arbeitsstunden von Heimhilfen bzw. Pflegeassistenzkräften variieren stark.

Ungleiche Leistungspakete und Versorgungssituationen 

Ungleichheiten bzw. Ungerechtigkeiten fördert der Bundesländervergleich auch bei der Ausgestaltung der Leistungspakete in der mobilen Pflege zutage. So müssen Kundinnen und Kunden für Heilbehelfe oder Nahrungsergänzungsmittel in einzelnen Bundesländern extra in die Tasche greifen, während diese in anderen kostenfrei sind. Manche Länder gewähren Bürgerinnen und Bürgern eine kostenlose Pflegeberatung, andere sehen dies nicht vor.

Besonders augenfällig ist auch die variierende Inanspruchnahme von Pflegedienstleistungen. Da die Pflegebedürftigkeit und der Alterungsverlauf innerhalb Österreichs mehr oder weniger ähnlich sind, weisen die abweichenden Nutzungszahlen jedenfalls auch auf Differenzen bei der Verfügbarkeit von Pflege- und Betreuungsangeboten hin. Je nach Bundesland nehmen zwischen 28 und 48,2 Prozent der Pflegegeld­bezieherinnen und -bezieher über 80 Jahre einen mobilen Pflegedienst in Anspruch, der Nutzungsgrad stationärer Einrichtung liegt in dieser Altersgruppe zwischen 14,2 und 24,2 Prozent.

Pflegereform: Fairness, Transparenz und nachhaltige Absicherung

Angesichts dieser Unterschiede verlangt das Hilfswerk nachvollziehbare Standards für Pflegedienst­leistungen sowie Eigenbeiträge. Dies kann jedoch nur ein erster Schritt sein. „Österreich braucht eine Gesamtreform seines Pflegesystems“, fordert Elisabeth Anselm. „Es kann nicht sein, dass es eine Frage des Wohnorts ist, welche Leistungen pflegebedürftige Menschen erhalten. Und es kann auch nicht sein, dass nach dem Wegfall des Pflegeregresses die Solidargemeinschaft der Steuerzahlenden für die ungedeckten Kosten der stationären Pflege aufkommt, während die finanzielle und organisato­rische Unterstützung jener Menschen, die ihre Angehörigen zuhause pflegen, vergleichsweise gering ausfällt“, so Elisabeth Anselm weiter.

Gemessen an der Wahrscheinlichkeit des Eintretens sowie an der durchschnittlichen Dauer zählt Pflegebedürftigkeit heutzutage zu den großen Lebensrisiken, so wie Arbeitslosigkeit und Krankheit. Wer ein nachhaltiges, zukunftsfähiges und solidarisches Pflegesystem in Österreich sicherstellen will, muss daher – nicht zuletzt angesichts des bevorstehenden demografischen Wandels – über eine nachhaltige ökonomische Absicherung des heimischen Pflegesystems nachdenken.

„Die Klärung der Finanzierungs­frage muss allerdings mit einer für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen nutzbaren Ausgestaltung der Pflege verknüpft werden, und zwar nach evidenz­basierten, fachlich sinnvollen und nachvollziehbaren Kriterien“, fordert Elisabeth Anselm abschließend.

* Die Zahlen entsprechen den österreichischen Durchschnittspensionen für Frauen bzw. Männer.

Über das Hilfswerk Österreich

Das Hilfswerk ist eine der erfolgreichsten gemeinnützigen Organisationen im Bereich gesundheitlicher, familiärer und sozialer Dienste in Österreich. Der Tätigkeitsschwerpunkt des Qualitätsanbieters liegt in der Pflege und Betreuung, bei den mobilen Diensten ist das Hilfswerk österreichischer Marktführer.

Glossar

Wichtige Begriffe zur Pflege und Betreuung zuhause, rasch und verständlich erklärt:

MOBILE DIENSTE

Heimhilfe: Die Heimhilfe unterstützt stundenweise Menschen, die im Haushalt Entlastung benötigen. Die Häufigkeit der Hilfestellung lässt sich individuell anpassen und umfasst Tätigkeiten wie Aufräumen, Wäschewaschen, Bügeln, die Erledigung des Einkaufs oder die Zubereitung von Mahlzeiten, aber auch Unterstützung bei der Körperpflege, das An- und Auskleiden sowie die Begleitung bei Alltagswegen. In einigen wenigen Bundesländern wurde das Angebot einer Heimhilfe zeitlich zu einer Mehrstundenbetreuung ausgeweitet, um insbesondere pflegende Angehörige punktuell zu entlasten.

Hauskrankenpflege: Die Hauskrankenpflege ermöglicht eine professionelle gesundheitliche und pflegerische Versorgung in den eigenen vier Wänden. Das Leistungsspektrum umfasst Wund- und Schmerzmanagement, Medikamentenmanagement, etwaige Insulinadaptierungen, die Verabreichung von Injektionen und Infusionen sowie eine Beratung und Anleitung von pflegenden Angehörigen. In diesem Tätigkeitsbereich sind je nach Anforderung Pflegeassistentinnen und -assistenten (PA) bzw. Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger/innen (DGKP) im Einsatz.

Mobile Therapie: Bei starken Einschränkungen nach Unfällen, Krankheit oder infolge einer Behinderung helfen mobile (Physio-, Ergo- oder Logo-)Therapieangebote, um rasch wieder ein hohes Maß an Selbständigkeit zu erlangen.

Essen auf Rädern: Fällt die Zubereitung von Mahlzeiten bereits schwer, schafft ein Menüservice Abhilfe: Zur Auswahl stehen neben „Normalkost“ auch Diabetiker- und Leichtkost, cholesterinarme, vegetarische, glutenfreie und laktosefreie Speisen, die auch nach persönlichen Bedürfnissen zubereitet werden.

Ehrenamtlicher Besuchsdienst: In der Struktur des Hilfswerks spielt das Ehrenamt eine bedeutende Rolle. 20.000 Menschen stellen Zeit zur Verfügung, um mit pflege- oder betreuungsbedürftigen Menschen spazieren zu gehen, zu lesen, Karten zu spielen, zu plaudern oder einfach nur zuzuhören.

 

24-STUNDEN-BETREUUNG

24-Stunden-Betreuung: Personenbetreuer/innen wohnen im selben Haushalt wie die zu betreuende Person und unterstützen bei der Lebensführung und bei Alltagsaktivitäten, im Haushalt, helfen beim Essen und Trinken, bei der Körperpflege, beim An- und Ausziehen. Sie übernehmen nach Bedarf und spezieller Einschulung medizinisch-pflegerische Tätigkeiten, erledigen Besorgungen und leisten Gesellschaft. Die Betreuer/innen wechseln sich in einem meist 14-tägigen Turnus ab.

Kurzzeit- und Urlaubsbetreuung: Auch pflegende Angehörige brauchen eine Auszeit.Im Rahmen der Kurzzeit- und Urlaubsbetreuung wird eine 24-Stunden-Betreuung für einen begrenzten Zeitraum von zwei, drei oder vier Wochen gewährleistet – während urlaubsbedingter Absenz der Angehörigen, zu deren Entlastung, als Überbrückung während einer Erkrankung der betreuenden Person oder während der Wartezeit auf einen Heimplatz.

Rückfragen & Kontakt:

Hilfswerk Österreich, Bundesgeschäftsstelle
DI Roland Wallner
01 / 4057500-230, Mobil: 0676 / 8787 60203
roland.wallner@hilfswerk.at
www.hilfswerk.at

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