Nationalrat: Debatte über Versammlungsfreiheit und Abschiebungen

Misstrauensanträge gegen den Innenminister und Entschließungen von SPÖ und NEOS zum humanitären Bleiberecht abgelehnt

Wien (PK) In der heutigen Sondersitzung des Nationalrats debattierten die Abgeordneten intensiv über das Verbot von Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen am vergangenen Wochenende. Grundlage dafür bot die Dringliche Anfrage der FPÖ an Innenminister Karl Nehammer (siehe auch Parlamentskorrespondenz Nr. 113/2021). Die Oppositionsparteien waren sich einig, dass der Innenminister damit Regierungskritik unterbinden wollte und kritisierten das Vorgehen scharf. ÖVP und Grüne wiesen auf die Gefährdung der Gesundheit hin und übten wiederum Kritik an der FPÖ. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und der Schutz der Gesundheit seien sorgfältig gegeneinander abgewogen worden, so die Argumentation der beiden Regierungsparteien.

Der von SPÖ-Abgeordneter Selma Yildirim eingebrachte Entschließungsantrag, das im Staatsgrundgesetz und in der Grundrechte-Charta verankerte Recht auf Versammlungsfreiheit auch in Zeiten einer Pandemie unter Einhaltung der notwendigen gesundheitlichen Vorgaben zu gewährleisten, wurde zwar von SPÖ, FPÖ und NEOS unterstützt, erhielt damit aber nicht die erforderliche Mehrheit.

Eine zusätzliche Belebung erfuhr die Debatte durch Anträge der SPÖ und der NEOS. Sie kritisierten scharf die jüngst erfolgten Abschiebungen von Familien nach Georgien und Armenien und beharrten auf einem humanitären Bleiberecht. NEOS-Abgeordnete Stephanie Krisper verlangte, die Prüfung des anhängigen Antrags auf humanitäres Bleiberecht der am 28. Jänner 2021 nach Georgien abgeschobenen Mädchen unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ehestmöglich abzuschließen und von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung eines humanitären Bleiberechts durchzuführen. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt, er erhielt nur die Stimmen von SPÖ und NEOS. Die SPÖ trat dafür ein, für solche Fälle Lösungen zu schaffen. Dies könnte nach Ansicht der SozialdemokratInnen etwa in einem humanitären Bleiberecht bestehen, bei dem auch die Stimme der Länder und Gemeinden gehört wird. Dieser Antrag, eingebracht von Jörg Leichtfried, wurde im Rahmen einer namentlichen Abstimmung mit 119 nein- und 53 ja-Stimmen ebenfalls abgelehnt.

Die Grünen betonten, diesen beiden Anträgen nicht zuzustimmen, da sie vor allem die Initiative der SPÖ als „Heuchelei“ betrachten. Es sei nämlich die SPÖ gewesen, unter deren Kanzlerschaft die heute geltenden verschärften Asylregelungen geschaffen worden seien, so die Grüne Regierungsfraktion. Die Grünen wollten vielmehr als Regierungspartei Verbesserungen erzielen, wobei sie auf die von Vizekanzler Werner Kogler angekündigte Kindeswohlkommission verwiesen. Die ÖVP wiederum blieb bei ihrer Argumentation, dass sich der Innenminister nicht über ein Urteil des Höchstgerichts hinwegsetzen könne.

Zwei Misstrauensanträge gegen Innenminister Nehammer abgelehnt

Die geharnischte Kritik der Opposition an Innenminister Karl Nehammer wurde auch durch zwei Misstrauensanträge – einen von der FPÖ und einen von der SPÖ – unterstrichen. Aber auch damit kamen die beiden Fraktionen nicht durch. Die Freiheitlichen warfen dem Minister Versagen bei der Terrorbekämpfung und im BVT vor. Die Abschiebung von Kindern sei eine Inszenierung gewesen, so Hannes Amesbauer (FPÖ), der Minister spalte die Bevölkerung und greife die Versammlungsfreiheit an. Der FPÖ-Misstrauensantrag wurde in einer namentlichen Abstimmung mit 92 nein-Stimmen gegen 79 ja-Stimmen abgelehnt.

Mit 92 Gegenstimmen – 78 Abgeordnete stimmten dafür – blieb auch der Versuch der SPÖ erfolglos, dem Innenminister das Vertrauen zu versagen. Reinhold Einwallner (SPÖ) begründete seinen Antrag umfangreich. Er gibt dem Innenminister die volle Verantwortung für die Abschiebung von Kindern, die sich seit Jahren in Österreich aufhalten oder hier geboren wurden, die Schule besuchten und bestens integriert gewesen seien. Der Minister und seine Behörden hätten das Verfassungsgesetz über die Rechte von Kindern missachtet. Er wirft Nehammer zudem vor, die Aufnahme von Kindern aus griechischen Flüchtlingslagern zu verhindern und die versprochenen Hilfsgüter noch immer nicht geschickt zu haben. Versagen ortet er zudem im BVT, außerdem kritisiert er, dass das Parlament zu wenig bei der Reform des BVT eingebunden sei. Im Zusammenhang mit dem Terroranschlag vom 2. November 2020 ortet die SPÖ großes Behördenversagen im Innenministerium und schließlich kritisiert sie die Untersagung der Demonstrationen vom 31. Jänner 2021. Man hätte den Organisatoren strikte Auflagen erteilen müssen, meint man seitens der SozialdemokratInnen.

FPÖ: Regierungskritik steht allen zu, Untersagung der Demonstrationen ist Schande für die Demokratie

In der Debatte fuhr vor allem die FPÖ mit schweren Geschützen auf. Susanne Fürst (FPÖ) warf dem Innenminister vor, Regierungskritik unterbinden zu wollen. Es sei ungeheuerlich und „zutiefst undemokratisch“, die tausenden Menschen, die auf die Straße gegangen seien, zu verunglimpfen. Es stehe allen zu, die Regierung zu kritisieren, so Fürst. Das sei der Sinn des Versammlungsrechts, das nun schon seit 150 Jahren bestehe. Dieses Grundrecht müsse auch bzw. gerade in Krisenzeiten gewahrt werden, sagte die Abgeordnete. Diese Versammlungen hätten nie untersagt werden dürfen, auch in Zukunft dürfe das nicht passieren, zeigte sich Fürst überzeugt.

Ins gleiche Horn stießen ihre KlubkollegInnen. Petra Steger (FPÖ) sprach von einer „Schande für die Demokratie“, Hannes Amesbauer (FPÖ) ortete bei Minister Nehammer ein „gespaltenes Verhältnis zu Demokratie und Wahrheit“. Die Untersagung der Demonstrationen stelle einen „beispiellosen Angriff auf die Versammlungsfreiheit“ dar, es hätten sich ganz „normale BürgerInnen“ versammelt. Bei mehreren tausend TeilnehmerInnen könnten die Veranstalter nichts dafür, wenn sich auch andere daruntermischen, meinte er. Michael Schnedlitz (FPÖ) wiederum sprach von einem „Aufstand der rechtschaffenen BürgerInnen“ und Christian Hafenecker (FPÖ) warnte vor einem „Ständestaat 2.0“.

ÖVP bezeichnet Kickl als „Brandstifter“

Die ÖVP verwahrte sich mit Vehemenz gegen diese Vorwürfe, vor allem auch dagegen, mit dem Dollfuss-Regime verglichen zu werden. Was die Untersagung der Demonstrationen betrifft, so seien diese zum Schutz der Gesundheit von der Landespolizeidirektion Wien in Absprache mit der Landessanitätsdirektion untersagt worden, betonten die ÖVP-MandatarInnen August Wöginger, Karl Mahrer, Wolfgang Gerstl Michaela Steinacker und Christian Stocker. Sie stellten klar, dass nicht der Innenminister, sondern die zuständige Landespolizeidirektion Wien nach einer genauen Abwägung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit und anderer Grundrechte wie Gesundheit und Leben die Versammlung untersagt habe. Es sei evident gewesen, dass die Vorschriften nicht eingehalten würden. Dass trotzdem so viele Menschen zu einem „Spaziergang“ gekommen seien, habe auch Kickl zu verantworten – Mahrer sprach in diesem Zusammenhang von einem Skandal. Er forderte den Freiheitlichen daher zum Rücktritt auf.

Für Mahrer hat Herbert Kickl in seiner Frustration den Bogen überspannt. Er warf dem FPÖ-Klubobobmann und ehemaligen Innenminister vor, Öl ins Feuer zu gießen. „Sie agieren in dieser Republik als Brandstifter“, sagte Mahrer in Richtung des FPÖ-Klubobmannes. Das Virus zu negieren und alle Maßnahmen abzulehnen, um damit politisches Kleingeld zu wechseln, sei verantwortungslos. Kickl unterstütze gesetzwidriges Verhalten, wiegle Menschen gegen den Staat auf und verhandle mit Extremisten, unterstrichen Gerstl und Steinacker die Vorwürfe Mahrers. Die Freiheit endet dort, wo die Freiheit der anderen beginnt, wiesen die türkisen RednerInnen auf die Gefährdung der Gesundheit bei den untersagten Demonstrationen hin.

SPÖ: Recht auf Versammlungsfreiheit muss gewahrt sein

Heftige Kritik am Innenminister kam wiederum von Jörg Leichtfried (SPÖ). In Nehammers bisheriger Amtszeit habe es Skandale, Behördenversagen, Härteentscheidungen gegen Kinder und Einschränkungen der Grundrechte gegeben. „So geht es nicht weiter. Es ist Zeit, dass Sie gehen“, sagte er zum Innenminister. Die Versammlungsfreiheit sei eines der am härtesten erkämpften Grundrechte, so Leichtfried. Demonstrationen müssen auch in Pandemiezeiten stattfinden können.

Die Versammlungsfreiheit sei ein schwer erkämpftes Grundrecht, unterstrich auch Sabine Schatz (SPÖ), selbstverständlich seien die Regeln einzuhalten. Die Untersagung der Demonstrationen sei der falsche Weg gewesen, denn es sei nicht gelungen, sowohl die Gesundheit als auch die Versammlungsfreiheit zu schützen. Das Ergebnis sei Chaos gewesen, war sie sich mit Selma Yildirim und Agnes Sirkka Prammer einig. Letztere stellte klar, dass die Versammlungsfreiheit nicht davon abhänge, wer eine Demonstration anmeldet und welche Botschaften sie hat. Yildirim sprach daher von einer „alarmierenden“ Vorgangsweise Nehammers.

Grüne: Versammlungsfreiheit keine Rechtfertigung, Gesundheit aufs Spiel zu setzen

Das Demonstrationsrecht sei eines der höchsten Güter, betonten die Grünen. Dennoch halten sie das ausgesprochene Verbot für gerechtfertigt. Wie ÖVP-Abgeordneter Mahrer bemühte auch der Grün-Abgeordnete Georg Bürstmayr das Bild eines Brandes. Er verglich die Situation mit einem Dorf, das seit Monaten mit anhaltender Dürre und Waldbränden zu kämpfen hat. Wenn Menschen dort dazu aufriefen, gegen die Löschmaßnahmen zu demonstrieren und einen Waldspaziergang mit abschließendem Lagerfeuer ankündigten, würde die Dorfgemeinschaft das verbieten, weil es eine Gefährdung aller wäre. Die Versammlungsfreiheit sei eine tragende Säule der Demokratie, aber keine Rechtfertigung, die Gesundheit von vielen Menschen aufs Spiel zu setzen, so Bürstmayr. Dass es keine Eilverfahren zur gerichtlichen Untersuchung von Untersagungen von Versammlungen wie etwa in Deutschland gebe, bezeichnete er als Manko des österreichischen Rechtssystems. Er sei auch nicht mit allem einverstanden, was von jenen gesagt werde, die gemeinsam mit ihm den „Brand“ bekämpfen. Deshalb aber die Bekämpfung der Pandemie zu unterbrechen und in einen Wahlkampf zu ziehen, möchte er nicht, sagte Bürstmayr mit Blick auf Unstimmigkeiten in der Koalition.

Ähnlich argumentierte Eva Blimlinger (Grüne), die zudem darauf hinwies, dass es zu Nazipropaganda und antisemitischen Äußerungen gekommen sei, und das falle nicht unter die Meinungsfreiheit, wie sie betonte. Auch David Stögmüller (Grüne) warf ein, dass es klar gewesen sei, dass Leute nicht zu einem Spaziergang, sondern zu einer untersagten Demonstration gekommen seien, dass sich darunter auch bekannte Rechtsextremisten befunden hätten. Gleichzeitig zeigte er aber kein Verständnis dafür, dass die Polizei DemonstrantInnen begleitet, die sich nicht an die Regeln halten. Das vermittle den Eindruck, dass die Exekutive mit zweierlei Maß messe, so Stögmüller unter Hinweis auf das Verhalten der Polizei gegenüber DemonstrantInnen gegen Abschiebungen.

NEOS: Keine Einschränkungen bei sensiblen Grundrechten

Für Nikolaus Scherak (NEOS) ist die Versammlungsfreiheit als grundlegende Säule der Demokratie gerade in Zeiten der Krise besonders wichtig. Die „demokratische Zumutung“ der Corona-Pandemie führe zu einem großen Bedürfnis an einer öffentlichen Debatte. Wenn so viele Grundrechte eingeschränkt werden, seien die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit die einzigen Möglichkeiten, auf diese Einschränkungen aufmerksam zu machen. Es handle sich deshalb um die „Mutter der Grundrechte“, so Scherak. Gerade bei diesen sensiblen Grundrechten dürfe es keine zusätzlichen Einschränkungen geben. Auch er teile die Meinung vieler DemonstrantInnen nicht, es sei jedoch nicht möglich, Demonstrationen zu verbieten, nur weil dort andere Meinungen geäußert werden, sagte der NEOS-Abgeordnete.

Ihm stimmten auch seine Klubkollegen Felix Eypeltauer und Johannes Margreiter vollinhaltlich zu. Es sei nicht gelungen, neutral zu bleiben, sagte Eypeltauer und forderte in Zukunft vor allem einen besseren Schutz für JournalistInnen. Er habe den Eindruck, die Pandemie diene als Ausrede, dass man es eine Zeit lang mit der Demokratie nicht so ernst nehmen müsse, zeigte sich Margreiter besorgt.

SPÖ und NEOS für humanitäres Bleiberecht – Grüne werfen SPÖ Heuchelei vor und wollen Verbesserungen statt Koalitionsbruch

Auch die kürzlich erfolgte Abschiebung von Kindern war heute Thema der sehr emotionalen Debatte im Nationalrat. SPÖ und NEOS setzten sich dabei nicht nur verbal, sondern auch mittels Anträgen für ein humanitäres Bleiberecht ein. Diese fanden jedoch nicht die erforderliche Mehrheit.

So kritisierte vor allem der stellvertretende SPÖ-Klubobmann Jörg Leichtfried die Abschiebung von in Österreich geborenen und aufgewachsenen Kindern stark. Die ÖVP versuche, auf dem Rücken von Kindern Parteipolitik zu machen, lautete der Vorwurf. Das sei ebenso abzulehnen wie Showpolitik statt echter Hilfe für die Kinder auf Lesbos. Leichtfried brachte einen Entschließungsantrag ein, mit dem er die Regierung dazu aufforderte, sich zum humanitären Bleiberecht zu bekennen und die Abschiebungen der Mädchen zurückzunehmen. Wenn das Kindeswohl laut dieser Entscheidung nicht beeinträchtigt gewesen sein soll, dann stimmt etwas mit den Kriterien nicht, stellte Agnes Sirkka Prammer (SPÖ) fest. Ihr Klubkollege Reinhold Einwallner bezeichnete die Vorgangsweise schlicht und einfach als „unerträglich“.

Auch die NEOS zeigten kein Verständnis für die Argumentation des Innenministers und der ÖVP. Kein Gesetz der Welt hat den Innenminister zu dieser Entscheidung gezwungen, sagte Stephanie Krisper. Er habe die Verantwortung auf die Justiz abgeschoben, aber er hätte das Recht gehabt, zu prüfen, und dann wären die Behörden verpflichtet gewesen, nochmals das Kindeswohl unter die Lupe zu nehmen. Aber auch ihr Antrag blieb in der Minderheit. Das Kindeswohl hat absoluten Vorrang, meinte auch Johannes Margreiter (NEOS).

Eva Blimlinger (Grüne) verteidigte das Abstimmungsverhalten ihrer Fraktion und bezeichnete vor allem den Antrag der SPÖ als „Heuchelei“, weil diese die verschärften Asylgesetze mitbeschlossen habe. Ihre Klubkollegin Bedrana Ribo stimmte ihr zu und sprach von „Show-Politik“ der SPÖ. Sie übte aber seitens der Grünen scharfe Kritik an den Abschiebungen und damit am Koalitionspartner ÖVP. Dennoch wolle man der ÖVP den Gefallen eines Koalitionsbruchs nicht machen, argumentierte sie. Die Grünen würden keine Show wollen, sondern Verbesserungen. In diesem Zusammenhang verwies sie auf die von Vizekanzler Kogler eingesetzte Kindeswohlkommission. (Schluss Nationalrat) kar/jan

HINWEIS: Sitzungen des Nationalrats und des Bundesrats können auch via Livestream mitverfolgt werden und sind als Video-on-Demand in der Mediathek des Parlaments verfügbar.


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