Tage der Entscheidung: Von „großen Namen“ und vielen „Vergessenen“

Festsitzung des Nationalrats anlässlich der Republiksgründung vom 21. Oktober 1918: Die Demokratie muss gepflegt werden

Wien (PK) Die 208 Abgeordnete des österreichischen Reichsrats seien sich am 21. Oktober 1918 durchaus der historischen Bedeutung ihres Handelns bewusst gewesen, sagte heute Abend die Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsforschung Barbara Stelzl-Marx in ihrer Ansprache zu den „Tagen der Entscheidung“ bei der Festsitzung des Nationalrats zur Gründung der Republik 1918 im Festsaal des niederösterreichischen Landhauses in der Wiener Herrengasse. Politikberater Thomas Hofer warnte vor einer „demokratiepolitischen Wohlstandsverwahrlosung“ und mahnte von Politikern Antworten auf vier „Entscheidungsfragen“ ein, wie etwa BürgerInnen in die Lage zu versetzen, in Neuen Medien Echtes von Unechtem zu unterscheiden. Die fünf Klubobleute des Nationalrats erinnerten nicht nur an die „großen Namen“ aus den Tagen der Republiksgründung, sondern auch an die „vielen Vergessenen“, die für die Erste Republik arbeiteten und an sie glaubten.

Barbara Stelzl-Marx: Die Gründung der Ersten Republik war ein Prozess

Stelzl-Marx wies darauf hin, dass die Gründung der Ersten Republik Österreich ein Prozess gewesen sei. „Am 21. Oktober 1918 hat die Provisorische Nationalversammlung die Grundzüge eines neuen Staates festgelegt“, sagte sie. Mit umfasst sollten alle geschlossen deutsch besiedelten Gebiete der Donaumonarchie sein. Das genaue Territorium stand noch nicht fest, auch die Staatsform war noch offen. Aber es sollte eine Demokratie sein.

Stelzl-Marx erinnerte daran, dass man sich in „der schwersten Zeit der Geschichte“ befand, der „man aber zugleich mit freudiger Hoffnung begegnete“. Auf der einen Seite seien Sorge, Angst und Unsicherheit gestanden, auf der anderen Seite hätten Optimismus und eine starke Aufbruchsstimmung geherrscht. „Man befand sich im fünften Jahr des Weltkriegs“, betonte Stelzl-Marx. „Hunger, Not und Elend herrschten. Das Kriegsende war absehbar.“ Die Monarchie war in ihren Grundfesten erschüttert, sie bröckelte. Noch am 16. Oktober 1918 hatte Kaiser Karl das „Völkermanifest“ erlassen, in dem er sich an seine „treuen österreichischen Völker“ gerichtet und die Bildung eines Bundes freier Völker versprochen hatte. „Doch im Endeffekt hat dieser Rettungsversuch den Zerfall nur noch beschleunigt“, erklärte Stelzl-Marx.

Der Prozess der Gründung der Ersten Republik setzte sich am 30. Oktober 1918 fort, „wiederum hier in diesem Saal des niederösterreichischen Landhauses mit der zweiten Sitzung der provisorischen Nationalversammlung“, berichtete Stelzl-Marx. Es wurde das Gesetz Nummer eins über die grundlegende Einrichtung der Staatsgewalt erlassen – als Teil einer provisorischen Verfassung. „Damit war die Konstituierung des Staates Deutschösterreich vollendet“, sagte die Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsforschung. Ein Staatsrat wurde als Vollzugsausschuss festgelegt, woraus die erste Regierung unter Karl Renner hervorging.

Am 3. November 1918 wurde in Padua der Waffenstillstand zwischen Österreich-Ungarn und der Entente unterzeichnet. Am 11. November 1918 legte die Regierung einen Gesetzesentwurf über die Ausrufung der Republik Deutschösterreich vor. Am Abend dieses Tages unterzeichnete Kaiser Karl unter dem Druck der Ereignisse die Verzichtserklärung und besiegelte das Ende einer 600 Jahre dauernden Herrschaft des Habsburger-Hauses.

Tag der Ausrufung der Republik, am 12. November 1918, durchaus belastet

Barbara Stelzl-Marx erinnerte daran, dass der 12. November 1918, der Tag der Ausrufung der Ersten Republik, an dem das Gesetz über die Staats- und Regierungsform beschlossen worden war, „aus heutiger Sicht auch durchaus als belastet“ angesehen werde. „Erstens hat es eine Sehnsucht nach Anschluss gegeben“, erläuterte Stelzl-Marx. „Man glaubte nicht an die Überlebensfähigkeit des geschrumpften Österreich.“ Zweitens sei am Anfang auch Gewalt gestanden. „Denn während der Sitzung war die Rote Garde vor dem Parlament aufmarschiert“, erklärte Stelzl-Marx. Als die rot-weiß-rote Fahne gehisst wurde, rissen Angehörige der Roten Garde den weißen Streifen heraus, knüpften die roten Teile zusammen und hissten eine rote Fahne. Aus einem Missverständnis heraus kam es zu einer Schießerei, eine Massenpanik entstand und ein Mann und ein Kind wurden zu Tode getrampelt. Im Vertrag von St. Germain legten die Siegermächte den endgültigen Namen Österreichs fest, die Grenzen wurden bestimmt und der Anschluss wurde untersagt. Damit war der Gründungsprozess der Ersten Republik im Wesentlichen beendet.

„Nach dem Ende Österreichs 1938 und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 konnte die Zweite Republik auf der gescheiterten, erkämpften, umkämpften Ersten Republik aufbauen. Wenn wir uns heute an die Tage der Entscheidung 1918 zurückerinnern, wird eines deutlich: Die Demokratie ist ein zerbrechliches Gut, das es nach wie vor permanent zu schützen gilt“, unterstrich die Historikerin.

Thomas Hofer: 1918 war ein sichtbares Anbrechen eines neuen Zeitalters

Festredner Thomas Hofer (Politikberater und Meinungsforscher) knüpfte an 1918 als „fühlbare Zäsur, einem sichtbaren Anbrechen eines neuen Zeitalters“ an. Er zeigte auf, dass der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der UdSSR den „globalen Triumph der liberalen Demokratie“ ausgerufen habe. 15 Jahre später habe Colin Crouch die These von der „Postdemokratie“ aufgestellt, wonach es Eliten gelänge, die Bedürfnisse der breiten Masse zu manipulieren. Wiederum 15 Jahre später kam es zum Phänomen des „Wutbürgertums“ und des Populismus. Hofer zeigte auch die Schnelllebigkeit der österreichischen Innenpolitik auf und mahnte in Bezug auf den Bestand der Demokratie, „wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen“.

Er betonte aber auch, dass es nicht so schlecht um die Demokratie stehe, wie das manchmal behauptet wird. Hofer führte die „Europäische Wertestudie“ an, die für Österreich eine zunehmende Zustimmung zu einem „demokratischen politischen System“ ausweist. 2018 sprachen sich 95 Prozent der Befragten dafür aus, 2008 waren es nur 83 Prozent. Einen „starken politischen Führer, der sich nicht um Parlament oder Wahlen kümmern muss“ wünschten 2008 noch 22, heute nur noch 16 Prozent.

Wir leiden an demokratiepolitischer Wohlstandsverwahrlosung

„Wir müssen zwar nicht das jähe Ende der Demokratie befürchten“, sagte Thomas Hofer. „Aber wir alle leiden an demokratiepolitischer Wohlstandsverwahrlosung.“ Als Folge dessen gab er den Abgeordneten der Festsitzung vier Entscheidungsfragen mit auf den Weg: „Eine dieser Fragen ist für mich, an welchen allgemein zugänglichen Orten wir künftig demokratisch Themen verhandeln.“ Was häufig als „Filterblase“ im Zusammenhang mit Neuen Medien genannt wird, bezeichnete Hofer als „Stämme“. Diese seien „sehr reale Parallelwelten“. Er mahnte „gemeinsame Orte der Deeskalation“ ein, „an denen wir uns abweichende Meinungen wieder zumuten“.

Als zweite Entscheidungsfrage forderte Thomas Hofer die Politik auf, die „mediale Alphabetisierungsrate“ in der Bevölkerung drastisch anzuheben. Gratis-Tablets in Schulen zu verteilen, sei zu wenig. Wir stünden in einer Zeit, in der Cyber-Attacken auf Wahlen real seien, in der Dirty-Campaigning-Attacken die Wählerinnen und Wähler in die Irre führten und in der künftig auch Bewegtbild-Manipulationen an der Tagesordnung stehen könnten. „Die Bürgerinnen und Bürger müssen in die Lage versetzt werden, solche Inhalte zu beurteilen und Echtes von Unechtem unterscheiden zu können“, unterstrich Hofer.

Die dritte Entscheidungsfrage richtete der Politikberater an die Abgeordneten selbst. Die Antwort auf den „Wutbürger“ dürfe nicht der „Angstpolitiker“ sein. „Dieser Typus der Politikerin, des Politikers hat dem Wutbürger erst den Boden aufbereitet“, betonte Hofer. PolitikerInnen dürften sich nicht an Umfragen orientieren. Sie sollten „das Ohr am Volk haben, ihm aber nicht nach dem Mund reden“. PolitikerInnen sollten nicht „Agenda-Surfer“ sein, sie sollten sich vielmehr ihrer Funktion als „Themensetzer“ bewusst sein und sie ausüben. Nur das würde Führungskompetenz untermauern.

Als vierte Entscheidungsfrage stellte Thomas Hofer das Thema „Visionen“ in den Blickpunkt der Politik. Diese müssten langfristig angelegt sein. Er erinnerte daran, dass das Thema „Mondlandung“ mit der Vision des US-Präsidenten John F. Kennedy verbunden sei, weil er sie als Ziel definiert habe. Die Früchte erntete erst sein Nach-Nachfolger. „Es lohnt sich, auch an der Vision eines noch fester verankerten und auch für künftige Herausforderungen gewappneten Demokratieverständnisses zu arbeiten“, empfahl Hofer. Er riet, die Initiative „Demokratiewerkstatt noch größer zu denken“.

Wöginger: Erste Republik brachte soziale Errungenschaften

In den Statements der Klubobleute betonte August Wöginger (ÖVP) die „große Entschlossenheit der konstituierenden provisorischen Nationalversammlung“. Er erinnerte an die Lebensumstände, unter denen die Bevölkerung damals zu leiden hatte. Es fehlte an Rohstoffen und Lebensmitteln. Hinzu kam die Angst vor Unruhen. Aber trotz ideologischer Gegensätze sei eine Reihe erfolgreicher Kompromisse zustande gekommen. Wöginger betonte, dass die Erste Republik einige soziale Errungenschaften vorzuweisen hatte, wie die Arbeitslosenversicherung, Urlaub, ein kollektivvertraglich festgelegter Mindestlohn und sechs Monate Karenzurlaub für Frauen.

Rendi-Wagner: Erinnern an die vielen Vergessenen

Auch SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner führte ins Treffen, worunter die Bevölkerung zu leiden hatte, aber auch, was sie leistete. „Oft wird nur von den großen Namen gesprochen, von den wohl bekannten und berühmten Namen“, sagte sie. „Ich aber möchte heute an die vielen Vergessenen denken, deren Gesichter man nicht kennt, die aber für diese Republik gearbeitete haben, die an sie geglaubt haben.“ Sie erinnerte auch daran, dass in den Jahren nach 1918 „zu wenig zugehört worden ist“. „Statt die Zukunft zu gestalten, haben viele nur darauf geschaut, sich selbst zu verwirklichen“, unterstrich die Klubobfrau. „Wer auf das Zuhören vergisst, dient nicht diesem Land.“ Auch heute werde zu oft darauf vergessen, den Menschen zuzuhören, „sich ihre Sorgen, Ängste, Bedürfnisse und Wünsche anzuhören“.

Rosenkranz: Gemeinsamer Geist über ideologische Grenzen hinweg

FPÖ-Klubobmann Walter Rosenkranz unterstrich die historische Bedeutung des Ortes, an dem am 21. Oktober 1918 die Gründung der Republik stattgefunden hat. Seit dem 16. Jahrhundert hätten hier politische Beratungen stattgefunden. Auch in der Revolution 1848 habe er eine Rolle gespielt – der Bauernführer Hans Kudlich sei vor diesem Gebäude mit einem kaiserlichen Bajonett erstochen worden. Rosenkranz hob vor allem den „gemeinsamen Geist“ hervor, der von dem niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse ausgegangen sei. Er zählte eine Reihe von Namen auf – Sozialdemokraten wie Christlich-Soziale und Deutschnationale. „Sie alle wirkten der Sache untergeordnet“, betonte Rosenkranz. 1945 sei es „genau der gleiche Geist des Jahres 1918 gewesen, der zur Zusammenarbeit über die ideologischen Grenzen hinweg geführt hat – auch manchmal der Geist der Lagerstraße genannt – und der Österreich wieder frei, demokratisch und föderal entstehen ließ“.

Meinl-Reisinger: Es gibt keine Demokratie ohne liberale Grundprinzipien

Beate Meinl-Reisinger, Klubobfrau der NEOS, erinnerte an einige Grundprinzipien, auf denen die Erste und auch die Zweite Republik aufgebaut wurden. „Es gibt keine Demokratie ohne liberale Grundprinzipien“, sagte sie. Sie mahnte etwa einen starken Parlamentarismus ein. Und sie mahnte von allen gesellschaftlichen Kräften den Schutz der Republik vor Unfreiheit und autoritären Tendenzen ein. „Unsere Verfassung schützt uns nur bedingt davor, zumindest wenn wir uns nur formell zu ihr bekennen“, warnte Meinl-Reisinger.

Noll: Wer den Geburtstag der Republik ernst nehme, müsse für die Wiedereinführung des 12. November als Feiertag der Republik sein

Alfred Noll, Klubobmann der Liste PILZ, wies darauf hin, dass „wir nicht 100 Jahre Republik feiern, weil wir 12 Jahre davon in Unfreiheit gelebt haben“. Noll wies auch darauf hin, dass der 12. November, der Tag der Ausrufung der Republik, Nationalfeiertag der Ersten Republik war. In der Zweiten Republik gab es 20 Jahre lang keinen Nationalfeiertag. An der Frage des Datums sei ein Streit entfacht: die SPÖ hatte sich für den 12. November ausgesprochen, die ÖVP für den 15. Mai als Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955, die KPÖ für den 27. April als Tag der Unabhängigkeit 1945 und die VdU (Verband der Unabhängigen – später FPÖ) für den 12. November – „aber aus anderen Gründen als die SPÖ, nämlich zwecks eines Bekenntnisses zum Anschluss“. Als Kompromiss kam der 26. Oktober zustande. Noll meinte, nehme man die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der Republik ernst, müsse man „eigentlich für die Wiedereinführung des 12. November als Feiertag der Republik sein“. (Schluss Festsitzung) gb

HINWEIS: Fotos von der Festsitzung finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/SERV/FOTO/ARCHIV.   

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