TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 4. Jänner 2021 von Gabriele Starck „Ein Verlust auch für Europa“

Innsbruck (OTS) Mit Angela Merkels bevorstehendem Rückzug aus der Politik geht nicht nur Deutschland, sondern der gesamten EU eine Stimme der Vernunft und des Ausgleichs verloren. Ihr Nachfolger muss in sehr große Fußstapfen treten.

Die Distanziertheit der Naturwissenschafterin ist verschwunden. Stattdessen Emotion pur, als Angela Merkel im Dezember im Bundestag die Deutschen anfleht, die Kontakte zu reduzieren, und die Bundesländer, die Weihnachtsferien vorzuverlegen. Ein Auftritt, der im Internet viral geht und auch außerhalb Deutschlands als authentische Regung wahrgenommen wird. Und eine, die bei etlichen, die alles andere als Anhänger konservativer Parteien sind, Wehmut über den bevorstehenden Abschied einer großen Europäerin ausgelöst hat.
Die Emotion Merkels beinhaltet aber auch ein Ohnmachtsgefühl, das sie in ihrem 15. und vorletzten Jahr als Kanzlerin erfahren musste. Dass ihr Erfolgsrezept – verhandeln, bis ein Kompromiss gefunden ist – in der Corona-Pandemie nicht greift. Einfach, weil dafür keine Zeit ist. Jeder Tag, der ungenutzt verstreicht, lässt die Zahl der Infektionen steigen und kostet Menschenleben. Aber auch diese Ohnmacht macht ein Stück das Menschsein aus.
Menschlichkeit allerdings könnte mit ihrem Abschied aus der Politik in einem Jahr auch der EU verloren gehen. Ebenso ihre vermeintlich unerschütterliche Ruhe, mit der sie nächtelang durchverhandelt hat, um zumindest auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen. Merkel hat das Bohren harter Bretter geradezu perfektioniert, und sei es, indem sie den Kampfgeist ihrer Gegenüber schlichtweg erschöpft hat. Wer ihr in einem Jahr folgen wird, ist für Europa ebenso von Bedeutung wie für Deutschland selbst. Was hieße für die EU ein Kanzler Markus Söder (CSU), dessen bayerisches „Mir san Mir“-Mantra zwar gut zu anderen europäischen Populisten passte, aber wenig Europa enthielte? Was bedeutete der neoliberale Friedrich Merz für die EU, der das gesellschaftspolitische Gestern zurücksehnt? Ihm ist Merkels Härte in der Griechenland-Krise zuzutrauen, nicht aber deren Barmherzigkeit – etwa im Flüchtlingsjahr 2015. Wie könnte sich ein Armin Laschet durchsetzen, dessen Kompromissbereitschaft zuletzt manchmal bis zur Selbstaufgabe zu reichen schien? Vielleicht führt 2022 aber auch erstmals eine Grüne oder ein Grüner eine deutsche Bundesregierung an – ohne den Rückhalt einer grünen Macht auf europäischer Ebene.
Aber Merkel musste anno dazumal ja auch mit der despektierlichen Einordnung aufräumen, sie sei ja nur ihres Vorgängers, also „Kohls Mädchen“.

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