TIROLER TAGESZEITUNNG, Leitartikel: „Zum Trotz Europäer geworden“, von Peter Nindler

Ausgabe vom Dienstag, 10. September 2019

Innsbruck (OTS) 100 Jahre nach der Zerreißung Tirols steht Südtirol heute als selbstbewusste und selbstbestimmte europäische Region da. Das Unrecht bleibt, aber die Autonomie hat Südtirol zu einem Modell für die Überwindung ethnischer Konflikte geformt.

Die Zerreißung Tirols vor 100 Jahren war die Folge von nationalistischen Ideen und strategischen Überlegungen: Bereits 1915 forderte Italien die Grenzziehung am Brenner als Gegenleis­tung für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg auf Seiten von Frankreich, England und Russland. In den Friedensverhandlungen von Saint-Germain 1919 wurde Südtirol endgültig zum politischen Spielball: US-Präsident Woodrow Wilson akzeptierte Italiens Forderung, um damit den römischen Griff nach der Kvarner-Bucht im heutigen Kroatien zu verhindern. Jahrzehntelang mussten die Südtiroler mit den Konsequenzen leben. Faschismus und Zwangs-Italianisierung auch nach 1945 entrechteten die deutsche Minderheit südlich des Brenners.
Das Pulverfass explodierte in den Bombennächten der 1960er-Jahre, erst die steinigen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlungen zur Erfüllung des zweiten Autonomiestatuts („Paket“) entkrampften den Minderheitenkonflikt. Die Streitbeilegung zwischen Österreich und Italien machte die Südtirol-Autonomie 1992 schließlich zum Vorbild für das friedliche Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen und den Minderheitenschutz.
Treffend spannt die Südtiroler Autorin Selma Mahlknecht den Bogen von der „Niedertracht der Schnurrbärte und Zylinder“ in Saint-Germain in die Gegenwart: „Ihr habt uns nicht zerstört und zerrieben. Wir sind über euch hinausgewachsen. Euch zum Trotz und vielleicht sogar euretwegen sind wir zu Europäern geworden, zu Weltbürgern.“ Die Autonomie hat Südtirol zur Vorzeigeregion geformt, der österreichische EU-Beitritt die Brennergrenze letztlich überwunden. Natürlich bleibt die Vision von der Eigenstaatlichkeit und flammt das „Los von Rom“ der patriotischen Kräfte in Südtirol immer wieder auf: Doch auf Illusionen lässt sich keine Zukunftspolitik aufbauen. Neue Grenzziehungen stehen vielmehr im Widerspruch zur europäischen Idee. Und das Selbstbestimmungsrecht? Südtirol hat dafür gekämpft, die weitgehende Autonomie symbolisiert auch das erfolgreiche Aufstehen gegen das völkerrechtliche Unrecht von Saint-Germain. Aber wer 2019 die Selbstbestimmung in Südtirol kleinredet, verwässert den Blick zurück und auf die Herausforderungen in der Zukunft.
Italien ist die geografische und politische Hülle Südtirols, doch als selbstbewusste europäische Region mit Trient und dem Bundesland Tirol bestimmt Bozen heute mit. 100 Jahre nach Saint-Germain kann man darauf zu Recht stolz sein.

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