TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Kein kurzer Prozess“, von Michael Sprenger

Ausgabe vom Samstag, 5. Dezember 2020

Innsbruck (OTS) Das nicht rechtskräftige Urteil gegen Grasser widerlegt ein oft gehörtes Vorurteil gegenüber der Justiz: Da kommt eh nichts raus und am Ende lässt man die Großen laufen. Doch reicht das Urteil zur politischen Hygiene? Man kann hoffen.

Dass der frühere Finanzminister Karl-Heinz Grasser (ÖVP, vormals FPÖ) nach der Urteilsverkündung von einem „politischen Urteil“ spricht, ist aus seiner Sicht erklärbar. Grasser hat sich von Anfang an in der Opferrolle eingenistet. Dazu passt es dann auch, wenn nach dem Urteil – wie auf Knopfdruck – die Strategie der Verteidigung um 180 Grad geändert wird. Nur zur Erinnerung: Grasser hat mit seinen Spitzenanwälten zuerst jahrelang zu verhindern versucht, dass es überhaupt zu einer Anklage kommt. Als es dann vor drei Jahren zum Prozess-Auftakt kam, waren es Grassers Rechtsanwälte, die von Anfang an versucht haben, den größten Korruptionsprozess in der Zweiten Republik in die Länge zu ziehen. Okay, könnte man einwerfen – das gehört zum Job eines guten Anwalts. Auch die Strategie, die Richterin zu attackieren, ihr Parteilichkeit vorzuwerfen? Die Vorwürfe perlten am Talar ab, also konnten sich Grassers Anwalt Manfred Ainedter und sein Klient mit Fortdauer des Prozesses nicht mehr einbremsen, als es darum ging, die ach so objektive und souveräne Prozessführung von Richterin Marion Hohenecker zu loben. Doch kaum hat sie ihr Urteil gesprochen, rückten Ainedter und Grasser aus, um der Richterin Befangenheit zu unterstellen. Zugegeben – auf den ersten Blick erscheint das Urteil gegen Grasser hart. Auf den ersten Blick: Doch der Strafrahmen von 15 Jahren wurde nicht annähernd ausgeschöpft. Naturgemäß gab es rund um die Causa reichlich an Berichterstattung. Doch daraus eine Vorverurteilung zu konstruieren, wie dies Ainedter versucht, ist kühn. Grasser war es schließlich, der immerzu versucht hatte, mit Glamour die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Zu schön, zu erfolgreich – und dann der Glitzer seines Umfeldes.
Die Richterin hat von Anfang an die Fallstricke erkannt, umkurvte alle und wollte sich einen Vorwurf im Nachhinein ersparen. Nur keinen kurzen Prozess.
Aber was bedeutet das nicht rechtskräftige Urteil für die Republik, für Grasser und die Mitangeklagten? Ob der frühere ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel Grasser weiterhin als Glücksfall bezeichnen wird, bleibt abzuwarten. Dass dieses Urteil die Korrumpierbarkeit von Politikern verhindert, kann man vielleicht hoffen. Doch die Redewendung „Und die Großen lässt man laufen“ verliert hierzulande langsam an Substanz. Dass Grasser und Co. in Berufung gehen, die Justiz und ihre Vertreterinnen angreifen, gehört zum Rechtsstaat – den es zu verteidigen gilt.

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