Zeit zum Reden: Podiumsdiskussion mit NR-Präsident Sobotka zur Frage von Erinnerung und historischer Verantwortung

Parlament begeht den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

Wien (PK) Am 27. Jänner vor 76 Jahren wurde das KZ Auschwitz-Birkenau befreit. Seit 2005 steht auf Initiative der Vereinten Nationen dieser Tag für die weltweite Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Antisemitismus und Rassismus. „Wir sind es den ermordeten Jüdinnen und Juden schuldig, die Erinnerung an sie zu bewahren. Wir haben sechs Millionen Gründe zu gedenken. Es ist unser aller Erbe und damit auch Pflicht, im Namen der Opfer die Stimme zu erheben“, betont Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka anlässlich des heutigen Gedenktags.

„Antisemitismus ist nicht nur eine Bedrohung für die Juden, sondern für die Demokratie und die offene Gesellschaft insgesamt“, unterstreicht der Nationalratspräsident weiter. „Jüdisches Leben, Kultur und Geschichte sind ein wichtiger Teil der Identität Österreichs. Jüdische Menschen haben über das religiöse Leben hinaus auch stets einen wichtigen Beitrag zu Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft geleistet. Wir müssen jüdisches Leben sichtbarer machen, um Berührungsängste abzubauen.“

Zeit zum Reden: Erinnerung und Verantwortung für die Zukunft

Nachdem die traditionelle Gedenkveranstaltung des österreichischen Parlaments anlässlich der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Jänner 2021 heuer auf Grund der Corona-Krise nicht stattfinden konnte, fand unter dem Titel „Zeit zum Reden“ eine virtuelle Podiumsdiskussion im Palais Epstein statt. Unter der Moderation von Rebekka Salzer diskutierten Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, die Schriftstellerin Jennifer Teege, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Graz Elie Rosen und die Zeithistorikerin und Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung Barbara Stelzl-Marx (Universität Graz) die Frage, welchen Stellenwert das Erinnern heute hat. Ein zentraler Punkt war die Frage, wie Aufklärung und demokratische Bildung in einem gesellschaftlichen Umfeld gelingen können, das unter anderem durch die digitalen Medien radikale Veränderungen erfährt. Die TeilnehmerInnen waren sich einig, dass die Gefahr einer Relativierung des NS-Regimes besteht und Bildung ein wichtiger Faktor gegen den neuen Antisemitismus ist.

Familiengeschichte als Anstoß zur Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung

Ausgangspunkt des Gesprächs war die Rolle, welche die Familiengeschichte für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit spielt. Die Schriftstellerin Jennifer Teege befasst sich aufgrund ihrer Herkunft seit vielen Jahre mit Fragen der Vergangenheitsbewältigung und der Erinnerungskultur. Teege, deren Vater aus Nigeria stammt, verbrachte die ersten Lebensjahre in Kinderheimen und wurde später adoptiert. Nur durch Zufall erfuhr sie als Jugendliche, dass einer ihrer leiblichen Großväter der NS-Verbrecher Amon Göth war, eine „monströse und beängstigende Figur“. Der SS-Mann und KZ-Kommandant Göth wird als „Schlächter von Plaszow“ auch im Film „Schindlers Liste“ dargestellt. Für sie sei es besonders schwierig gewesen, das Bild der Großmutter, die sie als Kind kannte, mit dem historischen Wissen über ihre Rolle als junge Frau in Einklang zu bringen. Ruth Irene Kalder habe als Geliebte von Göth in dessen Villa in Plaszow gelebt und müsse über seine Taten im Bilde gewesen sein, meinte Teege.

Als Anstoß zur Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit aufgrund der eigenen Familiengeschichte berichtete auch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Einer seiner Großväter sei prominentes NSDAP-Mitglied und Leiter der SA in seiner Heimatstadt Waidhofen an der Ybbs gewesen. In Briefen, die erhalten sind, offenbare er sich als überzeugter Nationalsozialist, der mehr war als nur Mitläufer, berichtete Sobotka. Für ihn sei es immer schwer vorstellbar gewesen, wie ein Mensch, der offenbar viel Wert auf eine korrekte Lebensführung legte, eine derartige Ideologie aktiv unterstützen konnte. Solche Fragen hätten ihn auch veranlasst, Geschichte zu studieren und sich mit der Zeit des Nationalsozialismus intensiv auseinanderzusetzen.  

Die Zeithistorikerin Barbara Stelzl-Marx erläuterte, wie es dazu kam, dass in Österreich die Beschäftigung mit der Seite der Täterinnen und Täter lange unterblieb. Ausgehend von der „Moskauer Deklaration“ zur Wiederherstellung der österreichischen Unabhängigkeit habe sich eine regelrechte Doktrin von Österreich als dem ersten Opfer des Nationalsozialismus etabliert, führte die Zeithistorikerin aus. Für viele Menschen sei es offenbar eine Erleichterung gewesen, dass sie sich als Opfer fühlen durften und sich nicht mit der Täterrolle auseinandersetzen mussten. Eine große Veränderung sei hier erst mit der „Waldheim-Affäre“ eingetreten. In letzter Zeit gebe es in der Forschung auch einen starken Fokus auf die Tätergeschichte.

Der Präsident der Jüdischen Gemeinde Graz Elie Rosen bestätigte, dass die Diskussionen um Kurt Waldheim eine Veränderung des öffentlichen Diskurses bewirkt haben. Grundsätzlich gehe es nicht um eine Frage von Schuld oder Unschuld der zweiten und dritten Generation, sondern um die Anerkennung und Wahrnehmung einer Verantwortung. Ein Grundproblem sieht Rosen dabei darin, dass nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Generationen zum Schweigen über die Verbrechen des Nationalsozialismus erzogen worden seien. Dieses Schweigen zu durchbrechen sei besonders wichtig, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholen könne, sagte er. Noch bis in die 1980er Jahre sei die österreichische Politik von Verleugnung geprägt gewesen und habe sich auch nicht gescheut, antisemitische Stereotype einzusetzen. Als positiv vermerkte Rosen, dass seit den 1990er Jahren mehrere österreichische Bundesregierungen klare Zeichen gesetzt hätten und auch die Frage der Wiedergutmachung wieder neu angegangen worden sei.

Den neuen Antisemitismus bekämpfen

Nationalratspräsident Sobotka sah ein grundlegendes Problem der österreichischen Nachkriegsgeschichte darin, dass lange ein Einverständnis der beiden Großparteien herrschte, gewisse Themen der Vergangenheit nicht anzurühren. Wichtig sei es, nicht zu vergessen, dass Antisemitismus nicht allein an den extremen Rändern der Gesellschaft zu finden sei. Hier gehe es um Gedankengut, das immer in der Mitte der Gesellschaft zu finden war und dort von wichtigen Akteuren, wie etwa der Kirche oder politischen Parteien, über Jahrhunderte gepflegt und eingesetzt worden sei. Antisemitismus sei vor allem auch eine antidemokratische Ideologie. Daher sei es wichtig, dass sich das Parlament sich dem Kampf gegen Antisemitismus, auch in seinen neuen Ausprägungen, widme.

Die Gefahr der Manipulation von Menschen bestehe nach wie vor, warnte Sobotka. Die große Herausforderung sieht er darin, die digitale Verbreitung von gefährlichen Ideologien zu beschränken. Seiner Meinung nach müsse daher auch für Internet-Plattformen ein Redaktionsprinzip geben. Für ihn sei es undenkbar, dass diese Medien ungehemmt Antisemitismus und Hass gerade unter Gruppen verbreiten können, die man zudem über andere Medien kaum erreiche. Bildung sei ein wichtiger Schlüssel im Kampf gegen Antisemitismus.

Der Antisemitismus sei nie verschwunden gewesen, er manifestiere sich aber derzeit wieder stärker und in neuen Formen, meinte Elie Rosen. In seiner Schulzeit habe er erlebt, dass ein Lehrer abfällige Bemerkungen über ein angebliches „jüdisches sich Suhlen in der Opferrolle“ machen konnte, ohne dass solche Herabwürdigungen Folgen gehabt hätten. Das Maßnahmenpaket der Bundesregierung gegen den Antisemitismus sei ein wichtiges Zeichen und zu begrüßen, da die österreichische Politik den Antisemitismus lange Zeit negiert habe. Antisemitismus trete heute „mutiert“ in neuen Formen auf und erzeuge neue Bedrohung. Er stelle immer wieder fest, dass Antisemitismus heute weniger von rechts, sondern in Form von vorgeblicher Israel-Kritik sehr stark vom linken politischen Spektrum komme. Neue Medien eröffneten zudem ungeahnte technische Möglichkeiten, um Hassbotschaften zu verbreiten. Hier sehe er wirkliche Gefahr, auf die man reagieren müsse.

Stelzl-Marx sagte, in Zeiten der Corona-Krise beobachte sie eine regelrechte Inflation der unpassenden Holocaust-Vergleiche. Ihrer Beobachtung nach gehe es hier zwar in erster Linie um das Provokationspotenzial. Allerdings bestehe die Gefahr, dass daraus eine Relativierung des Nationalsozialismus werde. Mit Sorge beobachte sie, dass rechtsradikale Gruppen auf diesen Trend aufspringen und sich der aktuellen Situation bedienen, um antisemitisches Gedankengut wieder in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren. Aus der Geschichte sei bekannt, dass in Extremsituationen Feindbilder aufleben und die Suche nach Sündenböcken beginne. Daher müsse man solche Entwicklungen sehr ernst nehmen und entsprechend auf sie reagieren. 

Auf die Frage der Moderatorin, ob in Deutschland genug gegen den neuen Antisemitismus getan werde, antwortete Teege mit einem dezidierten „Nein“. Zweifellos geschehe viel zur Pflege der Erinnerungskultur und sei viel historische Aufarbeitung erfolgt. Gegen die neuen „Mutationen“ von Hassideologien und des Antisemitismus würden die bisherigen Instrumente jedoch nicht mehr ausreichen. Herausforderungen wie die weite Verbreitung von Hass im Internet verlangten auch neue Werkzeuge. Wichtig sei, auf die reale Welt zu reagieren, in der die junge Generation heute lebe und aufwachse. Die Jugend sei mit großer Ungewissheit konfrontiert und erlebe ein politisches Klima, in dem gewisse Dinge wieder „akzeptabel“ zu werden scheinen. Auch Teege nannte das Phänomen der Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Hier würden beispielsweise Gruppen mit der Reichskriegsflagge auftreten, ohne dass sich Widerspruch der anderen TeilnehmerInnen rege.

Bewahrung der Erinnerung und Zukunft der Gedächtniskultur

In einer abschließenden Gesprächsrunde erörterten die DiskutantInnen, wie die Erinnerung bewahrt werden könne. Noch gebe es die Möglichkeit, mit letzten ZeitzeugInnen zu sprechen, betonte Stelzl-Marx. Wichtig sei es, mit den ZeitzeugInnen Interviews zu führen, um ihre Erinnerungen zu bewahren. Die Auseinandersetzung könne auch über Gespräche in den eigenen Familien passieren, etwas, wozu sie ihre StudentInnen immer ausdrücklich ermuntere. Ein großes Anliegen ist Stelzl-Marx, die oft verstreut vorhandenen Aufzeichnungen und Interviews zu sammeln und zu systematisieren und als Quellen für die weitere Forschung verfügbar zu machen. Initiativen wie #WeRemember spielen dabei für sie eine wichtige Rolle.

Die Kenntnis der eigenen Familiengeschichte ist für Sobotka ein wichtiger Faktor, denn diese schaffe eine emotionale Verbindung zur Vergangenheit und zur Geschichte. Im Wachhalten der Erinnerung sieht Sobotka auch eine wichtige politische Aufgabe. Antisemitismus stelle eine Bedrohung für die Demokratie und die offene Gesellschaft insgesamt dar, weshalb es richtig sei, wenn das Parlament sich dem Kampf gegen Antisemitismus widme. Er sei jedoch überzeugt, dass die Demokratie in Österreich stark und gefestigt sei, meinte Sobotka.

Die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte sieht auch Teege als wichtigen Teil der Erinnerungskultur. Heute gebe es viele gute Initiativen, die weitergeführt werden sollten. Sie bemerke aber mit Sorge vielerorts ein fehlendes Grundwissen über Antisemitismus und den Holocaust. Daher gelte es, das vorhandene Wissen weiter zu vermitteln. Die digitalen Medien schaffen dabei laut Teege eine neue gesellschaftliche Realität, der man sich stellen müsse.

Neben der Pflege der Erinnerungskultur gelte es, auch auf die neuen Bedrohungen zu reagieren, sagte Rosen. Er stelle aber immer wieder fest, dass viele Menschen, darunter auch PädagogInnen, antisemitische Stereotypen nicht erkennen. Hier müsse eindeutig mehr Bewusstseinsbildung erfolgen. Das Problem beginne oft schon in der Alltagssprache, die verletzende oder beleidigende Redewendungen enthalte. Er sehe eine wichtige Aufgabe, hier mehr Achtsamkeit zu schaffen.

Parlament nimmt an digitaler Kampagne #WeRemember teil

Ein weiteres Zeichen setzt das Parlament mit der Teilnahme an der digitalen Kampagne #WeRemember des World Jewish Congress (WJC) und der UNESCO. Die weltweite Gedenkkampagne #WeRemember soll Bewusstsein für die Bedeutung von Erinnerungskultur für die Gegenwart schaffen. Im Namen der Opfer des Nationalsozialismus wird die Stimme erhoben, um vor gefährlichen Entwicklungen in der Gesellschaft zu warnen. Der Nationalrat und der Bundesrat beteiligen sich mit einem Foto im Plenarsaal an der digitalen Gedenkkampagne. Von 25. bis 29. Jänner wird der Schriftzug #WeRemember an die Fassade des Parlamentsgebäudes am Josefsplatz projiziert. (Schluss) sox

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments. Eine Aufzeichnung der Podiumsdiskussion ist in der Mediathek des Parlaments verfügbar.


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